ANFANG VOM ENDE DER DDR

DER VOLKSAUFSTAND VOM 17. JUNI 1953

Oliver Kirchner

Liebe Bürger von Sachsen-Anhalt,

der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 jährt sich zum 70. Mal. Für die AfD-Fraktion in Sachsen-Anhalt ist dies Grund und Anlass, dem Einsatz und dem Opfer der mutigen Männer und Frauen der Volkserhebung in der DDR alle Ehre und Hochachtung auszusprechen.

Der 17. Juni steht wie kaum ein anderer Tag der jüngeren Geschichte unserer Nation für Selbstbestimmung und den Freiheits- und Einheitswillen des deutschen Volkes. Er bildete den Ausgangspunkt zum Mauerfall und zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Als Sinnbild des Kampfes für Demokratie, gegen totalitäre Herrschaft und politisches Unrecht darf er nie in Vergessenheit geraten.

Vergessen dürfen wir auch nicht die Aufständischen vom 17. Juni, die erschossen, verletzt und inhaftiert worden sind. Tausende mussten ihren Mut mit Verfolgung und Haft oder gar mit dem Leben bezahlen.

Ich selbst, Jahrgang 1966, wurde in Magdeburg geboren und habe den DDR-Volksaufstand nicht miterlebt. Dennoch war und ist dieser Tag für mich immer wieder gegenwärtig gewesen. Ich erinnere mich oft an einen alten Schulfreund, dessen Großvater am 17. Juni 1953 erschossen wurde. Ich denke auch oft an meinen eigenen Onkel, welcher als Hundestaffelführer der Magdeburger Polizei bei einer Gefangenenbefreiung in Sudenburg mitwirkte und noch in derselben Nacht mit Frau und Kindern die DDR über Berlin Richtung Westen verlassen musste. Immer wieder durfte ich ältere Magdeburger treffen, die selbst dabei waren und mir von ihren Erlebnissen und Eindrücken berichteten – von den Gründen der Volkserhebung, von den aufmarschierenden sowjetischen Truppen, den anrollenden Panzern, den Inhaftierungen, den öffentlichen Todesurteilen, aber vor allem vom Mut, den man damals hatte.

Diesen Mut zu Erhebung und Tat der Deutschen in der damaligen DDR möchten wir mit vorliegendem Heft, welches eine neue Bilddokumentation auf unseren Fraktionsfluren begleitet, helfen in Erinnerung zu halten.

Liebe Sachsen-Anhalter, ein nationaler Gedenktag fordert ein würdiges Gedenken! Halten wir die Erinnerung an den 17. Juni 1953 wach. Lassen Sie uns gemeinsam jenen, auch durch härteste Gegenmaßnahmen nicht unterdrückbaren Mut, jene Entschlossenheit und Beherztheit, die unsere Landsleute vor 70 Jahren aufbrachten, weitertragen.

Ihr Oliver Kirchner
Vorsitzender der AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt

Liebe Bürger Sachsen-Anhalts,

dass man an einem Tag wie dem 17. Juni an den Arbeiteraufstand von 1953 und den damit verknüpften Ereignissen und Schicksalen gedenken und erinnern soll und muss, steht außer Frage. Aber im Wort „Gedenken“ steckt auch das Wort „denken“, und so ist der Auftrag unserer Generationen, nicht nur den Mut und die Opfer von damals anzuerkennen, sondern auch für uns selbst klarzumachen, was ein Tag wie der 17. Juni in der heutigen Zeit bedeutet. Wir müssen darüber nachdenken, welche Lehren und Konsequenzen wir für uns daraus ziehen können.

Vor 70 Jahren haben sich die Arbeiter in der DDR einen freiheitsraubenden Eingriff des Staates in ihr Leben nicht kommentarlos gefallen lassen. Die Antwort des Regimes auf die Rebellion waren Polizei und Panzer, Folter und Verhaftungen, Gefängnis und Tod.

Heute wird der Staat erneut übergriffig.

Gordon Köhler

Er zerstört Wohlstand und Lebensgrundlagen auf der einen Seite, auf der anderen Seite schröpft er seine Bürger finanziell aus. Mehr noch, das Sicherheitsversprechen durch den Staat wurde für offene Grenzen aufgekündigt und es folgen Sprachdiktatur und Bildungsarmut für alle. Wer sich dieser Politik widersetzt, der spürt staatliche und gesellschaftliche Repression, Verächtlichmachung und Diskreditierung.

Doch wir schweigen nicht!

Wir erinnern uns an den Mut und die Courage jener Bürger, die gegen Unrecht aufstanden und sich nur mit der Faust in der Tasche den Panzern widersetzten.

Anders als unsere Landsleute vor 70 Jahren, haben wir heute die Möglichkeit, uns friedlich gegen einen übergriffigen Staat und dessen selbsternannte Zivilgesellschaft zur Wehr zu setzen. Fassen wir den Mut, aus der Komfortzone auszubrechen und haben wir die dieselbe Courage wie unsere Landsleute damals, den Staat daran zu erinnern, wer der Souverän in diesem Land ist: Unser Volk!

Ihr Gordon Köhler
Stellvertretender Vorsitzender der AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt

Die wirtschaftliche Ausgangslage in der SBZ/DDR

Die Industriegebiete Mitteldeutschlands sind stark durch den Krieg geschädigt. Die Reparationsleistungen umfassen bis 1948 die weitgehende Demontage der erhaltenen Industrieanlagen. Zugleich wird das Eisenbahnnetz in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) um gut die Hälfte reduziert. In der Landwirtschaft ist die Lage ebenfalls angespannt.

Die Grundeigentümer mit mehr als 100 Hektar Fläche werden 1945/46 entschädigungslos enteignet und der Boden unter landarmen oder landlosen Bauern, Kleinpächtern und Vertriebenen aufgeteilt. Diesen droht inzwischen ihrerseits eine Zwangskollektivierung. Im Herbst 1952 werden unterdurchschnittliche Ernten eingefahren. Die beginnende Aufrüstung, die Besatzungskosten und Reparationsleistungen belasten den Staatshaushalt der DDR. Eine höhere Arbeitsproduktivität soll bei Senkung der Selbstkosten erreicht werden.

Die Volkseigenen Betriebe werden am 28. Mai 1953 angewiesen, bis zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichts in freiwilliger Selbstverpflichtung die Arbeitsnormen um 10 Prozent zu erhöhen.

Die 2. Parteikonferenz als Kriegserklärung gegen das eigene Volk

Auf der 2. Parteikonferenz vom Juli 1952 ruft die SED den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ aus. Das umfasst die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild. Die Länder werden aufgelöst und in Bezirke überführt und die Kollektivierung der Landwirtschaft vorangetrieben.

Nationale Streitkräfte sollen aufgestellt werden. Das Geld dafür presst der Staat als Hauptarbeitgeber aus seinen Werktätigen. Der Aufbau der Schwerindustrie entzieht der Lebensmittel- und Konsumgüterproduktion die Grundlage. Verteuerung der Lebensmittel und Stromabschaltungen für Privathaushalte sind die Folge. Zudem wird der verbliebenen Mittelschicht durch erhöhte Abgaben und den Entzug von Lebensmittelkarten das Leben erschwert.

Im Frühjahr 1953 füllen sich die Gefängnisse mit den Opfern der planmäßigen Repressalien.

Stalins Tod führt in die Orientierungslosigkeit

In den Prozess der gewaltsamen Sowjetisierung der DDR fällt im März 1953 der unerwartete Tod des Diktators Stalin. In der Sowjetunion wird eine Kurswende eingeleitet. Eine Delegation der SED wird Anfang Juni nach Moskau bestellt. Ihr werden „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“ vorgelegt.

Auf das Widerstreben der SED-Funktionäre antwortet der hochrangige Funktionär der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland (SMAD), Wladimir Semjonow: „In vierzehn Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.“ In gewohntem Gehorsam verkündet daraufhin das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ am 11. Juni einen „Neuen Kurs“. Handwerker und Gewerbetreibende können die Rückgabe ihrer Betriebe beantragen. Bauern erhalten ihre beschlagnahmten Landmaschinen zurück. Stromabschaltungen finden nicht mehr statt. Eine Überprüfung der drastischen Strafverfolgungen wird in Aussicht gestellt und die Repressionen gegen Geistliche und ihre Gemeindemitglieder hören auf.

Nicht angetastet werden dagegen die Arbeitsnormerhöhungen.

Arbeitskampf gegen den Staat als Ausbeuter

Bereits im Mai war es vereinzelt zu Streiks gekommen. Die Partei- und Gewerkschaftspresse publiziert widersprüchliche Beiträge zur Normerhöhung. Sogenannte Betriebskollektivverträge (BKV) berauben die Arbeiter ihrer Zuschläge und Prämien. Als das durchgedrückt werden soll, wehren sich die Belegschaften der Leuna-Werke und des Schwermaschinenwerks „Ernst Thälmann“ in Magdeburg. Als auf den prestigeträchtigen Großbaustellen von Berlin am 15. und 16. Juni Protestaktionen stattfinden, ist das ein Fanal für das gesamte Land.

In über 700 Orten, Städten und Betrieben versammelt sich die aufgebrachte Menge zu Kundgebungen. Dabei sind die Normerhöhungen nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre brechen sich Bahn. Das politische System wird grundsätzlich in Frage gestellt. Demonstranten fordern den Rücktritt Walter Ulbrichts, freie Wahlen, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Freilassung der politischen Häftlinge.

Und sie warten nicht mehr geduldig auf Antwort. Sie stürmen die Verwaltungsgebäude, verjagen die verhassten Parteikontrolleure und beginnen Gefangene zu befreien.

Der 17. Juni 1953 in Magdeburg

Der Magdeburger Claus Fritzsche erfährt durch den Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) von den Berliner Ereignissen. Er berichtet: „Als ich am 17. Juni wie üblich um 7.30 Uhr meine Arbeit im Dolmetscherbüro der SAG (Sowjetische Aktiengesellschaft) ‚AMO‘ in Magdeburg antrat, war noch alles ruhig. Ich spürte aber, dass irgendetwas in der Luft lag.

Etwa eine halbe Stunde später ertönte Lärm auf dem Fabrikhof, und von der Großen Schmiede kam eine Kolonne von einigen Hundert Männern in Arbeitsanzügen herbeimarschiert. Auf einer Blechtafel, die vornweg getragen wurde, stand mit Kreide geschrieben: ‚Magdeburg folgt Berlin‘.“Fritzsche berichtet weiter, wie die Demonstranten aus den Magdeburger Großbetrieben in die Innenstadt ziehen. Die Bezirksleitungen von SED und der Jugendorganisation FDJ werden gestürmt.

Als die Arbeiter das Gefängnis im Gebäude des Bezirksgerichts öffnen wollen, wird von einem der inzwischen eingetroffenen Sowjetpanzer eine MG-Garbe über die Köpfe gefeuert.

Ernst Grobe (1904 – 1953) – Der Volksaufstand auf dem Lande

Ernst Grobe ist durch eine Schussverletzung kriegsversehrt. Gemeinsam mit seiner Frau, ihrem Sohn und dessen Gattin führt er einen Hof in Brumby bei Staßfurt. Die Grobes wirtschaften gut und erfüllen die staatlich vorgegebenen Normen.

Als sich am 17. Juni 1953 vor dem Gemeindeamt eine aufgebrachte Menge versammelt, die Transparente und Bilder von Funktionären auf dem Platz vor dem Gasthof verbrennen, geht Grobe mit sechs weiteren Bauern zum Bürgermeister und stellt ihn wegen einer schwarzen Liste von selbstständig wirtschaftenden Bauern zur Rede, die demnächst enteignet werden sollen.

Einen führenden SED-Funktionär treffen sie nicht in seinem Haus an. Die Möbel und andere Gegenstände von enteigneten Bauern räumen sie aus und stellen sie im Saal des Gasthofs unter. Ein Mannschaftswagen der Volkspolizei wird in die Flucht geschlagen. Bald darauf treffen die Sowjets ein.

Grobe wird als Rädelsführer in der sowjetischen Kommandantur in Schönebeck verhört. Am vierten Tag nach seiner Festnahme am 21. Juni findet man ihn erhängt in seiner Zelle.

Die Rote Armee greift ein

Als der Aufstand in vollem Gange und der SED das Heft des Handelns entglitten ist, fährt das sowjetische Militär auf den Straßen und Plätzen auf. In Moskau wird angeordnet 18 Aufständische zu erschießen. Nachgewiesen sind fünf Erschießungen durch sowjetische Kommandos. Allein in Magdeburg werden von den Sowjets drei Personen standrechtlich erschossen.

Zwei Hinrichtungen werden später aufgrund von Gerichtsurteilen der DDR-Justiz vollstreckt. Die Hinrichtungen werden mit Plakaten an den Litfaßsäulen angezeigt. Wladimir Semjonow, ein hoher Funktionär der SMAD, resümierte: „Es gelang uns, die Flamme zu löschen, bevor sie sich ausbreitete.“ Sowjetische Infanteristen patrouillieren durch die Straßen und schießen in die Luft. Tagelang stehen die schweren Panzer in den größtenteils noch stark zerstörten Innenstädten und halten die Geschützrohre auf die verbliebenen Kulturdenkmale gerichtet.

Von Historikern wird die Niederschlagung durch sowjetische Truppen später als „einer der größten Militäreinsätze in der europäischen Nachkriegsgeschichte“ bezeichnet.

Ernst Jennrich (1911 – 1954)

Der Magdeburger Gärtner Ernst Jennrich gelangt am 17. Juni 1953 mit seinem Sohn vor der Haftanstalt Sudenburg an. Die Wachmannschaften sind bereits entwaffnet. Jennrich wird von der hoffnungsfrohen Stimmung ergriffen. Er nimmt einem Minderjährigen einen Karabiner aus der Hand, feuert ihn leer und zerschlägt das Gewehr, damit niemand dadurch zu Schaden kommen kann. Später wird ihm unterstellt auf einen Volkspolizisten angelegt und ihn getötet zu haben.

Er wird der „Mordhetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen“ bezichtigt. Jennrich wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch die Staatsanwaltschaft legt gegen das Urteil Berufung ein. In einer 15-minütigen Verhandlung wird ein Todesurteil verhängt. Ein Schöffe legt daraufhin aus Protest sein Amt nieder.

Staatspräsident Pieck lehnt ein Gnadengesuch ab. Ernst Jennrich wird am 20. März 1954 in Dresden mit dem Fallbeil enthauptet. 1991 wird er posthum rehabilitiert und die Urne mit seinen sterblichen Überresten von Dresden in seine Heimatstadt überführt.

Alfred Dartsch (1910 – 1953) und Herbert Stauch (1917 – 1953)

Auch der aus dem schlesischen Liegnitz gebürtige Alfred Dartsch nimmt an der Erstürmung des Gefängnisses Sudenburg teil. Die Wachposten auf den nur von außen erreichbaren Ecktürmen werden zur Aufgabe gezwungen, entwaffnet und laufen gelassen. Alles verläuft friedlich bis Stasileute vom Dach des Gefängnisses in die versammelte Menge schießen.

Bei der anschließenden Erstürmung werden zwei Polizisten und ein Stasimann erschossen. Dartsch wird für einen dieser Fälle verantwortlich gemacht. Bevor eine Vernehmung stattfinden kann, wird er von der Staatssicherheit den Sowjets übergeben. Deutsche Volkspolizisten richten ihn und Herbert Stauch auf sowjetischen Befehl durch Genickschuss hin. Der Müllermeister Herbert Stauch gerät zufällig in die Menge, die vor der Bezirksbehörde der Volkspolizei die Freilassung der politischen Gefangenen fordert. Als einer von vier Delegierten der Menge verhandelt er mit dem Polizeichef. Er kann noch unbehelligt das Gebäude verlassen und wird am Abend von der Volkspolizei verhaftet. Am Folgetag wird er wie Alfred Dartsch in einem kurzen Verfahren, dessen Ausgang vorher feststeht, zum Tode verurteilt und von drei sowjetischen Soldaten in eine Ecke des Gefängnishofes geführt, wo er durch deutsche Polizisten hingerichtet wird. Seine Frau erfährt davon aus der Zeitung. 

Eine Sterbeurkunde, ohne Angabe der Todesursache, erhält sie nur auf Drängen. Sie muss sich und die beiden Kinder allein durchbringen. Die beiden Opfer der sowjetischen Militärjustiz sind nie bestattet worden. Einem Gerücht zufolge sollen sie im Heizungskeller des Gefängnisses verbrannt worden sein. Sie werden 1996 vom Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation rehabilitiert. In Magdeburg erinnert eine Straße am Innenministerium von Sachsen-Anhalt an Herbert Stauch.

In Stadt und Land auf den Beinen

Durch die Ballung von wichtigen Industriestandorten kommt es nach Berlin auf dem Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt zu den meisten Ereignissen. Im Bezirk Halle ereignen sich an 112 Orten Demonstrationen, öffentliche Kundgebungen, Streiks oder Gewalttätigkeiten gegen offizielle Personen und Einrichtungen. Im Bezirk Magdeburg sind es 82 Orte.

Die Liste liest sich wie ein Ortsverzeichnis: Von Barby, Barleben, Biederitz, Biere, Burg bis Schönebeck, Wanzleben, Wolmirstedt, Zerbst und Zielitz waren überall Tausende auf der Straße. Die Ereignisse jener Tage haben die Sterbeglocke der DDR geläutet. Die Partei und Regierung wussten seither, dass sie jene Arbeiter und Bauern gegen sich hatte, auf die sich der Staat berief. So hat der Volksaufstand der DDR gleich zu Beginn ihre Existenzberechtigung entzogen. Davon hat sie sich nie wieder erholt und war bis zuletzt mit Schadensbegrenzung beschäftigt.

Die Honecker-Regierung rückte dann die Befriedigung materieller Bedürfnisse der Bevölkerung in den Vordergrund, wodurch die DDR noch rascher dem wirtschaftlichen Bankrott entgegentrieb. Als erster nationaler Aufstand gegen die sowjetischen Besatzer und ihre einheimischen Vollstrecker strahlt der Volksaufstand in Mitteldeutschland auf die anderen Ostblockstaaten aus und ging den antistalinistischen Erhebungen 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei voraus.

Eine erstickte Hoffnung

Nach Berlin und Magdeburg gehen die meisten Menschen in Halle auf die Straße. Der Defa-Kameramann Albert Ammer filmt dort das Geschehen mit einer professionellen Kinokamera. Er wird dafür in einem Schauprozess mit einer Zuchthausstrafe und Berufsverbot belegt. Später übersiedelt er nach Bayern. Die Original-Filmrollen sind bis heute verschollen.

Über 150 Einzelbilder sind erhalten und zeugen von der fröhlichen Stimmung, die an jenen Tagen auf den Straßen und Plätzen von Halle herrschte und typisch für die Aufbruchsstimmung im ganzen Land ist. Jubelnde und Lachende sowie die Gegenwart von Frauen und Kindern in großer Zahl vermitteln den Eindruck eines Volksfestes. Das angestaute Gefühl der Bedrückung hat sich gelöst. Nur mit Brutalität können diese Erwartungen erstickt werden. Dabei werden Menschen betroffen, die nur am Rande mit dem Geschehen zu tun haben. Selten werden die tatsächlichen Aktivisten belangt.

Wer Pech hat, wird aus der Menge gegriffen und gerät in die Mühlen der Verfolgung. Andere, deren kritische Einstellung bereits bekannt ist, müssen sich über Tage und Wochen versteckt halten.

Sturm auf die Gefängnisse und Einrichtungen des Unterdrückungsapparats

In den Bezirken Halle, Dresden und Magdeburg gelingt die Gefangenenbefreiung im großen Stil. Die Aufständischen stürmen neun Gefängnisse und zwei Dienstgebäude des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), acht Polizeireviere, vier Volkspolizei-Kreisämter (VPKA) und eine Dienststelle der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP), wie etwa in Magdeburg, wo sich ein Menschenauflauf vor und auf dem Hof der BDVP bildet.

Mehr als doppelt so viele Einrichtungen werden belagert, aber nicht eingenommen. Von den etwa 1.500 Häftlingen, welche durch die Aufständischen befreit werden, können nur 63 entkommen. Die anderen werden wieder in Gewahrsam genommen. Die von den Massenverhaftungen während des Aufstandes Betroffenen werden größtenteils bald wieder freigelassen, um damit den Bürgern das Gefühl von Großzügigkeit und Nachsicht zu vermitteln.

In den Folgejahren legt sich ein immer enger gestricktes System der Überwachung und Nachstellung über die ganze Gesellschaft.

Friedhofsruhe von 1954 bis 1989

Kinowochenschauen simulieren Ende Juni 1953 die Zustimmung der Bevölkerung zu den Maßnahmen des Staates und der Politik der SED. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN bekundet am 1. Juli 1953 „Angehörigen der Sowjetischen Armee ihren Dank für das überlegte Eingreifen am 17. Juni 1953, dem Tag der faschistischen Provokation“.

Jedoch waren 17 Prozent der Streikleiter Mitglieder in der SED. Der Justizminister der DDR Max Fechner, vor der Zwangsvereinigung seit 1910 Mitglied der SPD und bereits unter den Nationalsozialisten zwei Mal inhaftiert, plädiert in einem Interview des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ am 30. Juni 1953 gegen die willkürliche Sanktionierung der Streikleiter und Rädelsführer des Aufstands.

Ohne Nachweis von konkreten Vergehen werde keine Bestrafung erfolgen. Das bringt ihm die Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus als „Feind des Staates und der Partei“ ein. Später wird er im Zuge der Entstalinisierung in der DDR rehabilitiert und geehrt.

Streiks und Aufstände in den Westzonen

Vergleichbare Ereignisse gab es zuvor auch in den westlichen Besatzungszonen. Ein Generalstreik in der Bizone am 12. November 1948 resultierte aus den Folgen der Währungsreform vom 20. Juni. Der Unmut der Arbeiterschaft entzündete sich an der freien Preisentwicklung bei gleichbleibenden Löhnen. Auf Wochenmärkten ereigneten sich Tumulte. Es gab Verabredungen zu Kaufstreiks, um moderatere Preise zu erzwingen. Zwischen August und Mitte September ereigneten sich über 40 Kundgebungen mit bis zu 100.000 Teilnehmern.

Vor allem in Mannheim, Bremen und Stuttgart kam es zu Großdemonstrationen. Am 28. Oktober 1948 rollten US-Panzer über das Stuttgarter Pflaster, weil die Polizei die Ausschreitungen nicht beruhigen konnte. Nach dem Petersberger Abkommen vom November 1949 waren die Demontagen in den Westzonen weitgehend eingestellt worden. Nur in den Reichswerken Salzgitter wurden weiterhin die Anlagen abgebaut. Die Belegschaft besetzt im Sommer 1951 die Werksanlage, stürmte das Verwaltungsgebäude, vernichtet Demontageakten und reißt die Demontagegerüste ein. Ein Zeitgenosse berichtete: „Die Initiative zum Widerstand ging von der praktisch zu 100 Prozent gewerkschaftlich organisierten Hauptwerkstatt aus.

Die wütenden Arbeiter beschädigten Bohrmaschinen, Sprengladungen und Zündschnüre verschwanden, Kräne und Militärfahrzeuge wurden blockiert.“ Eine Eskalation mit dem eingesetzten britischen Militär konnte nur knapp abgewendet werden. Während der Aufstand in der DDR ein Überwachungssystem von Stasi und Polizei zur Folge hat, führten die Stuttgarter Krawalle zur Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft.

Der Volksaufstand wird zum Nationalfeiertag in der BRD

Auch für die Bundesrepublik ist der Aufstand vom 17. Juni 1953 ein entscheidendes Ereignis. Dass in der Ostzone die sowjetischen Panzer über das Pflaster rasseln und standrechtliche Erschießungen erfolgen, trifft die freiheitlichen und demokratischen Grundlagen der Bonner Republik und Westberlins im Mark.

Bundeskanzler Adenauer erhebt in einer Regierungserklärung die Forderung nach freien Wahlen in der DDR als Voraussetzung für eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands. Am 19. Juni 1953 reist er nach Berlin, um der Opfer des Aufstandes zu gedenken. Am 22. Juni 1953 wird der zwischen S-Bahnhof Tiergarten und Brandenburger Tor verlaufende Abschnitt der Berliner Straße und der Charlottenburger Chaussee in Straße des 17. Juni umbenannt.

Weitere Straßen, Brücken und Plätze werden in den Folgejahren nach dem Aufstand benannt. Im August 1953 wird der 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“ und zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Durch den Einigungsvertrag von 1990 wird der 3. Oktober als der Tag des Anschlusses der DDR an die BRD zum „Tag der Deutschen Einheit“ erklärt.

Der 17. Juni behält den Status eines Gedenktages.

Der 17. Juni 1953 als „Innere Staatsgründung“ der DDR

Die Folgen des Aufstandes in der DDR sind zwiespältig. Einerseits verfeinert sich in der Folge der Repressionsapparat. Andererseits können die Massenproteste nicht verschwiegen werden. Es wird versucht, sie als einen aus dem kapitalistischen Westen gesteuerten „faschistischen Putschversuch“ umzudeuten.

Bis zum Ende der DDR, wird der 17. Juni 1953 in den Geschichtslehrbüchern so ausgelegt. Das in den Familien und hinter vorgehaltener Hand andere Geschichten erzählt werden, kann nicht verhindert werden. Die Krise der Jahre 1952 bis 1954, deren bedeutsamstes Ereignis der Volksaufstand war, wurde richtungsweisend für die nachfolgenden Jahrzehnte des Bestehens der DDR. Der Mythos vom Arbeiter- und Bauernstaat war bis zum Ende der DDR beschädigt. Die Volkspolizei bekommt in der Folge 14.000 neue Stellen zugesprochen. Abschnittsbevollmächtigte (ABV) in den Wohngebieten sollen die Stimmung ermitteln und frühzeitig oppositionelle Regungen wittern.

Ein Netz von informellen Mitarbeitern vergiftet das gesellschaftliche Leben. Doch der 17. Juni 1953 war dem Regime in die Knochen gefahren. Im Herbst 1989 fragte der Stasi-Minister Erich Mielke: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Die Ereignisse des Herbstes 1989 führen zurück auf die Erfahrungen des Juni 1953.