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Tote des 17. Juni 1953
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Rudolf Berger

16.10.1912 - 18.06.1953
erschossen gegen 23 Uhr im Friedrichshain - Schwimmstadion (sowjetische Kommandantur)


Rudolf Berger 16.10.1912 - 18.06.1953 erschossen gegen 23 Uhr im Friedrichshain - Schwimmstadion (sowjetische Kommandantur) Rudolf [Karl Maria] Berger wird am 16. Oktober 1912 im mährisch–schlesischen Troppau (Opava, Tschechische Republik) geboren. (1) Nach der Eheschließung mit der Berlinerin Gerda Hofter (geb. 1915) im September 1940 verlegt er seinen Wohnsitz schließlich endgültig von Prag nach Berlin. Damit wird er "deutscher Reichsbürger", was nach 1945 eine Rückkehr in seine böhmisch–mährische Heimat (CSR) unmöglich macht. Die Familie, zweimal ausgebombt, wohnt seit 1945 im sowjetischen Sektor in der Bersarinstraße 34 im Bezirk Friedrichshain. (2) 1953 ist der studierte Diplomkaufmann bis Ende März an der Hochschule für Planökonomie in Berlin-Karlshorst und danach wieder als freiberuflicher Übersetzer für tschechisch und andere slawische Sprachen, auch russisch, tätig.

Am späten Mittag des 18. Juni – die 13-jährige Tochter ist in der Schule, die Ehefrau im Büro – unternimmt Rudolf Berger mit seinem knapp 5-jährigen Sohn wie jeden Tag nach der morgendlichen Arbeit am Schreibtisch ungeachtet des Ausnahmezustandes und des patrouillierenden Sowjetmilitärs einen Spaziergang, um kleine Einkäufe und Erledigungen zu tätigen, und vor allem, um mit dem Sohn in dem kleinen Park vor der Pfingstkirche am Petersburger Platz zu spielen und zu tollen – Alltag eben, trotz Kriegsrecht. Bei der Rückkehr treffen Vater und Sohn vor dem Haus Nr. 34 in der Bersarinstraße auf eine sowjetische Militärstreife. Nach kurzem, immer heftiger werdendem Wortwechsel wird Rudolf Berger schließlich mit erhobenen und im Nacken verschränkten Händen von den Soldaten und ihrem Offizier mit in Anschlag gehaltenen Kalaschnikows in Richtung des unweit gelegenen Volksparks Friedrichshain abgeführt. (3) In Panik läuft das Kind weinend dem Vater nach, schreit hinter den Soldaten her und wird erst von Nachbarinnen, die vier Häuser weiter eine Kurzwarenhandlung betreiben, zurückgehalten und bis zum Spätnachmittag betreut. Als die Mutter vom Rat des Stadtbezirks in der Grünberger Straße, wo sie als Stenotypistin und Protokollantin tätig ist, heim kommt, erfährt sie von den Nachbarinnen, was vorgefallen ist. Nachfragen bei der Polizei und beim Rat des Bezirks bleiben unbeantwortet.

In den folgenden Tagen verschafft ihr der Schwager Hermann Albrecht, der Angehöriger der Kriminalpolizei in Ost-Berlin ist, ungeachtet der bei Entdeckung zu erwartenden Bestrafung, gar der unehrenhaften Entlassung, illegal zwei Blaupausen: eine undatierte Urkunde des "Sterbefalls" (Magistrat von Groß-Berlin, Verwaltungsbezirk Friedrichshain) und einen am 22. Juni 1953 ausgestellten "Totenschein" (unleserliche Unterschrift des Arztes des Instituts für gerichtliche und soziale Medizin, NW7, Hannoversche Str.6, und dem Standesamt Friedrichshain von Groß-Berlin; Sterbebuch-Nummer 1033/53. (4) Die mit "23. Juni 1953" vom Standesamt Friedrichshain datierte und gegen eine Gebühr von DM –,30 ausgehändigte "Sterbeurkunde" vermerkt: "ist am 18. Juni 1953 gegen 23 Uhr in Berlin, am Leninplatz tot aufgefunden worden". Dagegen weist die Blaupause des "Totenscheins" unter Punkt 3: "Feststellungen zur Todesursache, a: Grundleiden" den handschriftlichen Eintrag "erschossen" aus. (5)

Während der "Totenschein" als oberer Teil des Formulars auf den 22. Juni 1953 datiert ist, trägt der untere Teil, der "Bestattungsschein", das maschinenschriftliche Datum 23. Juni 1953; auf ihm ist in der Spalte "Die Bestattung kann vom ... an erfolgen" handschriftlich das Datum "20. Juni 1953"(!) eingetragen.

Nach den Unterlagen des Krematoriums in Berlin-Baumschulenweg ist der Leichnam Rudolf Bergers dort erst am 27. Juni 1953 eingeäschert und die Urne zum 3. Juli zur Beisetzung bereitgestellt worden. (6) Allerdings ist die Asche unter der Auflage "im engsten Kreis und ohne Grabstein oder andere Erinnerungsmerkmale" auf dem evangelischen Friedhof St. Andreas/St. Markus in Hohenschönhausen im Beisein allein der Witwe und ihrer Kinder erst am 7. Juli 1953 zur Erde gelassen. (7)

Die Divergenz der spärlich auszumachenden Dokumente ist offenkundig wie hinreichend. Dem Versuch der verharmlosenden Verschleierung auf der offiziell ausgestellten "Sterbeurkunde" – "am Leninplatz tot aufgefunden" - widerspricht nicht nur der Vermerk "erschossen" auf dem "Totenschein", sondern vor allem dezidiert ein interner Lagebericht des Operativstabes der Ost-Berliner Volkspolizei vom 19. Juni 1953. Unter dem Eintrag 56 um 2.10 Uhr ist darin folgender Vorgang festgehalten:
    "Gegen 02.00 Uhr, teilte die VPI-Friedrichshain, VP.-Hwm. W. mit, daß gegen 01.00 Uhr, VP.-Kräfte der VPI-Friedrichshain im Schwimmstadion Friedrichshain (sowjetische Kommandantur), eine männliche Leiche übernahmen, welche sie dem Leichenschauhaus zuführten. Bei der Leiche handelt es sich um den Dipl. Kaufmann Rudolf Berger, geb. 6.10.12, wohnh. Bln C 34, Bersarinstr. 34. Die Leiche wies Schußverletzungen auf. Nähere Umstände wurden von dem sowjetischen Offizier nicht bekannt gegeben. Ein entsprechendes Dokument soll nachgereicht werden. Angehörige wurden noch nicht verständigt." (8)
Ob jenes "Dokument" tatsächlich "nachgereicht" wurde, lässt sich ebenso wenig sagen, wie und wann und in welcher Form man später "Angehörige verständigt" hat – ein schriftliches Dokument findet sich nicht in den Unterlagen der Hinterbliebenen. Auf Grund welcher Anschuldigungen oder gar Vergehen Rudolf Berger vor seinem Wohnhaus tatsächlich von der sowjetischen Militärstreife angehalten, angesprochen, dann arretiert, abgeführt und Stunden später offenkundig in der sowjetischen Kommandantur erschossen wird, lässt sich wohl erst nach Auffinden jenes damals von der Volkspolizei avisierten Dokumentes oder anderer Unterlagen aus russischen Archiven klären.

Doch immerhin, aus dem Volkspolizei-Lagebericht geht eindeutig hervor, dass Rudolf Berger keineswegs, wie dann in allen Dokumenten irreführend verzeichnet, irgendwo "am Leninplatz tot aufgefunden" wurde. Sein Leichnam wies vielmehr "Schussverletzungen" auf und ist Ost-Berliner Volkspolizisten "im Schwimmstadion Friedrichshain" (9), dem Sitz der innerstädtischen "sowjetischen Kommandantur", eben von sowjetischen Offizieren, die sich weder gegenüber der Ost-Berliner Volkspolizei, geschweige denn der Familie gegenüber erklären oder gar rechtfertigen hätten müssen, übergeben worden. Eingedenk aller Unstimmigkeiten der bis heute spärlichen Dokumentenlage – das am 18. Juni Vorgefallene muss man wohl als eine standrechtliche Erschießung bezeichnen. Möglicherweise steht die Erschießung von Rudolf Berger unmittelbar im Zusammenhang mit der vom damaligen Hohen Kommissar der UdSSR für Deutschland, Wladimir S. Semjonow, erinnerten "Weisung aus Moskau, (...) militärische Standgerichte einzurichten und zwölf Rädelsführer zu erschießen", auch wenn es im Falle Rudolf Bergers keine "abschreckende" öffentliche Bekanntmachung etwa an Litfasssäulen oder per Zeitungsanzeigen gegeben hat, wie es der Befehl forderte. (10)

Am 12. November 2002 wird die vermeintliche Grabstätte Rudolf [Karl Maria] Bergers von St. Markus zur Gedenkstätte der Opfer des 17. Juni 1953 auf dem Friedhof in der Weddinger Seestraße verlegt – dies allerdings ohne die Hinterbliebenen, Witwe und Sohn, zu informieren. Auch vom vorläufigen Schlussakt der Geschichte bleibt die Familie ausgeschlossen: In Anwesenheit hochrangiger Politiker von Bund und Senat wird anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag zur Erinnerung ein Gedenkstein gesetzt – Rudolf Berger * 16.10.1912 – † 18.6.1953.





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1 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Archivrecherchen, Unterlagen und einem Erinnerungsbericht von Dr. sc. Michael Berger, dem Sohn Rudolf Bergers.
2 Die Petersburger Straße wurde am 31.7.1947 nach dem ersten sowjetischen Stadtkommandanten, Nikolai Bersarin (1904-1945), der sich um die Wiederherstellung der Versorgung und des öffentlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg verdient gemacht hatte, in Bersarinstraße umbenannt. Seit dem 1.12.1991 trägt sie wieder ihren ursprünglichen Namen. Die Familie bewohnt in der 1. Etage eine 4-Zimmer-Wohnung, die die Witwe kurze Zeit später aus finanziellen Gründen aufgeben mußte.
3 Von der Bersarinstraße Nr. 34 sind es damals etwa 700 Meter in nördlicher Richtung zum Volkspark Friedrichshain. Die durch Kriegs- und Bombenschäden entstandenen Lücken sind seit den späten 1950er bis in die 1970er Jahre durch Lücken- und Neubebauung geschlossen. Die Hausnummerierung blieb im Lauf der Jahre unverändert.
4 Sterbefall-Urkunde und Totenschein im Besitz der Familie (Dr. sc. Michael Berger).
5 Ein gleichlautender Eintrag findet sich auch im Totenbuch des Instituts für Gerichtsmedizin der Charité Berlin unter der Lfd. Nr. 420: Berger, Rudolf; Leichen-Nr. F 53. In der Spalte "Todesursache" ist zu lesen: "Erschossen (Ausnahmezustand)". Allerdings ist schon in diesem ersten Dokument unter "Sterbeort" vermerkt: "Leninplatz aufgefunden", was offenkundig bereits einer möglichen Order, nicht jedoch den Tatsachen entspricht. Siehe dazu weiter unten.
6 Wer die Einäscherung in Auftrag gegeben hat, ließ sich in den verbliebenen Unterlagen nicht mehr ausmachen. Dank sagen wir insbesondere Frau Koplin von der Verwaltung des Krematoriums Baumschulenweg für die freundliche Bereitstellung der Unterlagen.
7 In unmittelbarer Nähe der damaligen Wohnung befinden sich zwischen Landsberger Allee (1950–1992: Leninallee) und Friedensstraße zwei große Friedhöfe (St. Georgen und St. Petri). Aber Termin und die Auflage einer „Beisetzung“ auf dem St. Markus Friedhof (3. Urnengarten, Reihe 8/14) in Hohenschönhausen, immerhin etwa 6 km entfernt, ohne Stein oder andere Erinnerungszeichen und im Kreis der unmittelbaren Familie sollten offenbar eine größere Anteilnahme, etwa von Nachbarn, verhindern.
8 Lagebericht Nr. 169 des Operativstabes des Präsidiums der Volkspolizei Berlin (PdVP) vom 18. bis 19.06.1953, 07.00 bis 07.00 Uhr, Berlin, den 19. Juni 1953, in: Polizeihistorische Sammlung des Polzeipräsidenten in Berlin, PdVP/Stab Operativ/Rapporte, 15.-30.6.1953, Nr. 8012, S. 8.
9 Das Karl-Friedrich-Friesen-Stadion wurde am 1. August 1951 anlässlich der II. Weltfestspiele eröffnet. Dort verbrachte auch die Familie Berger in den Jahren 1951 und 1952 manche Sommerstunde.
10 Vgl. Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, Berlin 1995, S. 296ff.


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